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immer noch. Ich hab mich angezogen und bin zum Bä-
cker gegangen, wo ich immer meinen Morgenkaffee trin-
ke, und das hab ich auch heut früh getan. Dann hab ich
zwei Brezen und Milch gekauft, weil ich dachte, viel-
leicht will er frühstücken. Als ich nach Hause kam, lagen
die Sachen auf dem Bett, und Jerry war verschwunden.
Er hat eine Hose von mir angezogen, einen Pullover, ir-
gendwelche alten Turnschuhe und meinen Friesennerz
mitgenommen.«
»Was?«
»Den hab ich mir für die Nordsee gekauft, ich fahr da oft
hin, besonders im Spätherbst, da braucht man so eine Öl-
zeugjacke, die hilft gegen das Wetter dort.«
»Und diese Jacke ist gelb?«, fragte ich.
Sie sagte: »Gibts die auch in anderen Farben?«
»Das bedeutet«, sagte ich, »Jeremias Holzapfel ist in einer
gelben Ölzeugjacke in der Stadt unterwegs? An einem
sonnigen warmen Tag wie heute?«
»Ist bestimmt ein lustiger Anblick«, sagte Esther.
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Näher kamen wir uns nicht. Wir verließen das
Haus und stiegen in Esthers blauen Saab.
Holzapfels Sachen lagen nach wie vor auf dem Bett. Ich
war noch einmal ins Schlafzimmer gegangen und hatte
mich umgesehen. Wie die unheimliche Hülle eines un-
sichtbar gewordenen Menschen wirkten das Blouson, die
Hose, das Hemd, und ich fragte mich, warum er sich um-
gezogen hatte. Und warum er dazu eine Frau aufgesucht
hatte, mit der er vor zehn Jahren befreundet war und zu
der er keinen Kontakt mehr hatte. Und wo hatte er sich
den gestrigen Tag über aufgehalten? Und wo war er
jetzt?
Und was war es, das mich zwang, in diesem Schlafzim-
mer zu stehen und ein ungemachtes Bett anzustarren?
Ich hörte, wie Esther hinter mir mit dem Hausschlüssel
klirrte, ich drehte den Kopf. Aber ich schaute sie nicht an.
Ich schaute an ihr vorbei oder durch sie hindurch.
Und da begriff ich, warum ich hier war. Warum ich die-
sem Mann hinterherlief, obwohl ich scheinbar nichts mit
ihm zu tun hatte, weder privat noch beruflich.
Vollkommen falsch.
Wegen ihm hatte ich vorhin die Geschichte vom Ab-
schied meines Vaters erzählt. Wegen ihm war ich bereit
gewesen, einen fremden Menschen in meine Welt zu las-
sen, ohne jede Absicht, ohne einen einzigen Gedanken
an Vorsicht. Durch den Anblick der zerknitterten alten
Kleidungsstücke auf dem weißen Bett wurde mir klar, wie
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wenig ich bisher über diesen verwirrten Schauspieler
nachgedacht, wie wenig ernst ich seine Situation genom-
men, wie wenig ich von seinem Zustand begriffen hatte.
Was mich veranlasst hatte ihm zuzuhören, ihn zu verfol-
gen, Personen zu befragen, so zu tun, als würde ich tat-
sächlich an einem Fall recherchieren, obwohl ich wusste,
dass es sich um keine typische Vermissung handelte  all
das geschah nicht aus Interesse, nicht einmal aus Neu-
gier, wie ich mir einredete. Vom ersten Moment an hatte
ich in der Person des Jeremias Holzapfel den Mann gese-
hen, der zurückgekommen war. Mit seinem Auftauchen
war etwas wirklich geworden, das bisher wie ein Schat-
tengebilde in meiner Vorstellung existiert hatte, eine Be-
drohung, ein Schmerz, eine Sehnsucht.
Dieser Mann, der behauptete vermisst worden zu sein,
hatte die Wahrheit gesagt. Auch wenn es nicht seine
Freunde oder seine Exfrau waren, die gewünscht hatten,
dass er zurückkommt.
Der Grund, warum ich hier war, auf der Rückbank von
Esthers Auto, frei von dienstlichen Verpflichtungen und
doch mitten in einer Suche, war Holzapfels Entscheidung
gewesen, seine Kleider zu wechseln und sie auf dem Bett
einer ehemaligen Geliebten liegen zu lassen.
Ich wollte, dass dieser Mann seine Sachen wieder anzog.
Ich wollte, dass er nicht in fremder Kleidung herumlief.
Ich wollte ihn finden, um mich zu vergewissern, dass er
in der Gegenwart angelangt und erwünscht war.
Wie wenig es ihm selbst gerade darum ging, merkte ich
erst spät, am Ende meiner fanatischen Suche. Mir aber
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kam der Weg dorthin wie ein Überlebenstraining in einer
von Finsternis überfluteten Landschaft vor. Im Nach-
hinein bewunderte ich meinen Mut.
»Woran denken Sie?«, fragte Esther Kolb.
»Der Ohrring«, sagte ich, »ist der ein Geschenk von Ih-
nen?«
»Er trug ihn schon, als wir uns kennen lernten«, sagte sie.
»Seine Frau hat ihm den Ring geschenkt, glaube ich.«
»Als Sie ein Verhältnis mit ihm hatten, war er noch ver-
heiratet.«
»Hab ich doch gesagt. Er wohnte mit ihr in dem Hoch-
haus.«
»In einem Einzimmerappartement?«
»Was?«
»Sie waren nie dort?«
»Haben Sie Alzheimer? Ich war nicht dort!«, sagte sie.
»Was für ein Einzimmerappartement?«
»Wusste seine Frau davon?«, fragte ich.
Sie sah in den Rückspiegel, lächelte kurz und konzen-
trierte sich wieder auf den Stau, der sich in der Bruder-
mühlstraße gebildet hatte.
»Kennen Sie eine Frau namens Inge Hrubesch?«
Esther stellte das Radio leiser, in dem ständig neue Be-
richte über bewaffnete Auseinandersetzungen im Nahen
Osten kamen.
»Ich hab von ihr gehört«, sagte sie.
»Kennen Sie sie?«
»Nein.«
Auch im Trappentreu-Tunnel standen die Fahrzeuge und
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ich legte mich flach auf die Rückbank. Esther drehte sich
zu mir um.
»Müde?«, fragte sie.
»Im Gegenteil.«
Sie wandte sich wieder nach vorn. Es kam mir vor, als
würde die Luft in dem Saab schwer auf mir lasten und
dabei immer weniger werden. Ich fing an zu schwitzen.
Knöpfte mir das Hemd auf und summte vor mich hin. Wir
kamen zehn Meter vorwärts.
»Jerry hatte immer Freundinnen in seiner Ehe«, sagte Es-
ther. »Er hat mit zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig
geheiratet, glaube ich. Clarissa. Seitdem waren sie zu-
sammen. Und sie kannten sich auch schon vorher. Kein
Mensch kann so lange treu sein. Haben Sie mit Clarissa
gesprochen?«
Ich lag auf dem Rücken, die Arme an den Körper ge-
presst, das Hemd bis zum Nabel geöffnet, die Augen fest
geschlossen. Was nichts nützte. Mein Herz trommelte
und die Stimmen aus dem Radio, so leise sie waren,
klangen bedrohlich. Ich atmete mit weit aufgerissenem
Mund.
»Wir haben es gleich geschafft«, sagte Esther.
Ich wollte sagen: Ich ersticke. Brachte aber kein Wort he-
raus. Meine Stimme war schon zerbröselt und der Rest
meines Körpers zerfiel langsam.
Plötzlich riss Esther das Lenkrad herum, drängte den Wa-
gen neben uns auf die rechte Spur, überholte hupend ei-
nen Motorradfahrer und raste in die Ausfahrt Richtung
Sendling. Ich richtete mich auf und sah, wie sie mehrere
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Autos beinahe an die Wand drückte. Die Fahrer waren so
erschrocken, dass sie tatsächlich Platz machten, wie für
einen Notarztwagen.
Endlich wieder im Tageslicht, setzte ich mich aufrecht
hin.
»Soll ich das Fenster öffnen?«, fragte Esther.
»Unbedingt.«
Dann hielt sie am Straßenrand an. »Wollen Sie ausstei-
gen?«
»Ja.«
Draußen legte ich den Kopf in den Nacken und streckte
die Arme in die Höhe. Wolken zogen vorüber. Ein kühler
Wind wehte, die Sonne brannte nicht mehr.
Esther lehnte an der offenen Wagentür. Als ich den Kopf
senkte, sah sie mich an, wie sie es schon öfter getan hat-
te.
Ich sagte: »Ich muss ganz von vorn anfangen.«
»Soll ich sie hinbringen?«, fragte sie.
Für einen Moment dachte ich, sie wisse wirklich, was ich
meinte.
»Nein«, sagte ich. »Ich finde allein hin.«
Esther sagte: »Ich arbeite bis eins, dann räum ich bis halb
zwei auf. Erinnern Sie sich noch an die Adresse?«
»Ja«, sagte ich.
»Vielleicht möchten Sie später noch ein Bier trinken.«
»Möglich«, sagte ich.
Bevor ich endlich mein Hemd zuknöpfte, küsste sie mich
auf den Mund, worüber ich erschrak. Das gefiel ihr.
»Viel Glück!«, sagte sie.
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Ich wartete, bis sie weggefahren war, dann machte ich
mich auf den Weg &
& zu einer weiteren Frau, die mich nicht empfangen,
nicht mit mir sprechen, mich für einen Verrückten halten
würde. [ Pobierz caÅ‚ość w formacie PDF ]
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